Im Grenzbereich

Im Grenzbereich

Als Ralf Bonsiepe die Haltestelle anfährt, toben Kinder nah am Bordsteinrand. Ein Mädchen stolpert auf die Fahrbahn. Bonsiepe tritt sofort mit voller Kraft auf die Bremse, bringt sein 18 Tonnen schweres Gefährt keinen halben Meter vor der verängstigten Schülerin zum Stehen. Er klammert sich ans Lenkrad, senkt seinen Kopf und atmet tief durch. Nichts passiert.

Bonsiepe konnte sich auf seine Intuition und seine Erfahrung verlassen – und auf gutes Training. Das bietet die Vestische ihren Fahrer*innen am Forschungs- und Technologiezentrum in Selm. Dort steht Verkehrsmeister Thomas Sankalla an einem verregneten Herbsttag in gelber Warnschutzjacke auf dem Asphalt und brüllt ins Funkgerät: „Gas, Gas, Gas!“ Denn alle sollen spüren, wie sich ihr Arbeitsgerät beim Slalomfahren in Grenzbereichen bewegt. In die Linkskurve nach der letzten Pylone neigen sich die Busse immer heftiger, begleitet von einem ins Mark gehenden „Iiiiiiiiieeeeeeeehhhhh“ der quietschenden Reifen. Aber alle Fahrzeuge bleiben in der Spur. Senay Kaya ist überrascht: „Es ist erstaunlich, wie gut sich der Wagen kontrollieren lässt.“ Das jedoch wird sich später noch ändern …

Die Vestische veranstaltet pro Jahr im Schnitt 15 Fahrsicherheitstrainings für jeweils zwölf Fahrer*innen. Lange nutzte das Unternehmen den Verkehrsübungsplatz in Recklinghausen. Im Oktober 2019 aber kommt das überraschende Aus, weil dort nach einer Neuregelung keine Fahrzeuge über 7,5 Tonnen mehr erlaubt sind. Doch die schlechte Nachricht entpuppt sich als Glücksfall. Vestische-Betriebsleiter Thomas Krämer stellt den Kontakt nach Selm her. Die Bedingungen dort begeistern Sankalla und seinen Kollegen Bernd Schmidt: „Vorher haben wir Bundesliga gespielt, jetzt Champions League.“

Bevor jedoch der erste Motor startet, verlangt die Theorie hohe Konzentration. Schmidt steht vorne im Schulungsraum und führt mit einem Laserpointer durch das Schulungskonzept auf der großen Leinwand. Er startet mit vermeintlich profanen Fragen: Wo sind Verbandskasten, Warndreieck und der Schalter für das Notlicht? Die Teilnehmer*innen schmunzeln, aber Schmidt betont: „Wenn Ihr einsteigt, seid Ihr für das Fahrzeug verantwortlich. Im Notfall könnt Ihr nicht lange überlegen oder suchen – egal, in welchem Bustyp Ihr sitzt.“ Er spricht auch über die beste Griffhaltung des Lenkrads und die ideale Sitzposition, denn es gelte die alte Regel: „Wer scheiße sitzt, der scheiße fährt.“

Dann geht der Verkehrsmeister ins Detail: Wie wirken sich Geschwindigkeit und Reaktionszeit auf den Bremsweg aus? Was passiert auf nasser Fahrbahn, auf Schnee oder gar auf Eis? Welche Rolle spielt der Anpressdruck der Reifen in einer Kurve? Auf der Leinwand erscheinen Rechenbeispiele, Begriffe und Zahlen, die die meisten Erwachsenen aus der Fahrschule kennen, aber nach der Prüfung wieder vergessen. Wer jedoch sein Geld mit Busfahren verdient, muss das alles wissen. Weil er eine große Verantwortung trägt für die Menschen, die er Tag für Tag befördert.

Regelmäßige Schulungen sind deshalb für Berufskraftfahrer*innen Pflicht. Innerhalb von fünf Jahren müssen sie fünf Weiterbildungsmodule absolvieren. Die Vestische bietet ihren Mitarbeiter*innen die Themen Erste Hilfe und Technik, Verhalten in Krisensituationen, Umgang mit mobilitätseingeschränkten Personen, Eco-Training für kraftstoffsparendes Fahren, allgemeine Vorschriften, Strategien zur Deeskalation sowie Gesundheit am Arbeitsplatz ab. Das mit Abstand beliebteste Modul sei aber das Fahrsicherheitstraining, erklärt Sankalla. Warum? „Weil hier Action ist.“

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Also: Raus aus dem Schulungsraum und rein in den Bus. Neben elf Männern ist Stefanie heute die einzige Frau. Während ihre Kollegen teilweise seit mehr als 30 Jahren Lkw oder Busse bewegen, hat sie ihre Ausbildung erst vor wenigen Monaten gemacht. Vor der ersten Praxisübung ist sie sichtbar nervös, verfolgt die letzten Anweisungen von Sankalla von einem auf das andere Bein tippelnd. Ans Steuer traut sie sich aber als eine der ersten. Sie führt ihren Gelenkbus zunächst behutsam durch den Slalomparcours. Doch von Runde zu Runde wird sie mutiger – genau wie ihre Kollegen, die ihre Anspannung vorher mal mehr, mal weniger überzeugend überspielen konnten.

Vielleicht auch, weil das Gelände sie beeindruckt. Das europaweit erste Freiluft-Forschungslabor für Ladungssicherung erstreckt sich auf einer Fläche von 123.500 Quadratmetern – umgerechnet rund 20 Fußballfelder. Dort untersuchen Wissenschaftler die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Fahrsituationen und unterschiedlichen Ladungen. Großzügige Dynamikflächen, diverse Gleitbelege, ein Wasserkreis sowie eine bewässerte Gefällestrecke inklusive Kurve bieten auch der Vestischen ideale Voraussetzungen, um verschiedene Fahr- und Extremsituationen zu simulieren. „Das sind Möglichkeiten, die nicht viele Verkehrsunternehmen haben“, erklärt Sankalla. „Die Kolleginnen und Kollegen sollen aber nicht nur fahren, sondern auch erfahren, welche Kräfte an welchen Stellen im Bus wirken und wie sich unsere Fahrgäste fühlen.“ Im gefederten Sitz am Lenkrad sei das schwer einzuschätzen. Deshalb nehmen alle hinten Platz, während vorne einer kräftig am Lenkrad dreht.

Auch das erfordert hohe Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt bei der nächsten Aufgabe: der Vollbremsung. Zunächst mit 30, dann mit 50 km/h. Klingt einfacher als es ist. „Der Fuß bleibt auf dem Pedal – und zwar: bis der Bus komplett steht“, betont Schmidt. „Und immer mit voller Kraft durchdrücken!“ Ein Manöver, zu dem die Fahrer*innen im Alltag zum Glück nur sehr selten gezwungen sind. Denn wie gefährlich es werden kann, wenn ihr 50 Stundenkilometer schneller Mehrtonner binnen weniger Meter zum Stehen kommt, erleben die Teilnehmer*innen nun selbst. Jörg Große-Wiegert klammert sich mit beiden Händen an den Sitz vor ihm und stützt sich mit dem Knie an der Rückenlehne ab. „Hältst du dich nicht ordentlich fest, fliegst du quer durch den Bus.“ Denn trotz des enormen Gewichts hat das Fahrzeug dank der sehr guten Technik und der großen Auflagefläche der breiten Reifen einen relativ kurzen Bremsweg. Doch entsprechend stark wirken die Fliehkräfte im Innenraum.

Damit Vollbremsungen gar nicht erst nötig werden, bekommen die Fahrer*innen Unterstützung von ausgefeilten Assistenzsystemen. Neu in der aktuellen Busgeneration sind der Totwinkel- sowie der Notbrems-Assistent, die beim Abbiegen nach rechts helfen sowie vor drohenden Kollisionen warnen. Enorm wertvoll, so viel ist sicher. Daher appelliert Schmidt: „Ihr seid die Profis und sollt erfahren, wie die Systeme arbeiten und wann sie aus welchem Grund eingreifen.“

Denn selbst die beste Technik ist nur so gut wie der Mensch, der sie bedient. Und deshalb lässt Sankalla jetzt das Wasser tanzen. Genauer gesagt: Fontänen auf der Übungsstrecke. Der Slalomparcours auf nasser Fahrbahn ist genau wie das Bremsen in die Linkskurve bereits deutlich herausfordernder. Noch kniffliger wird es, wenn Sankalla die Fontänen erst wenige Meter vor dem heranrauschenden Bus gen Himmel schickt. Die Aufgabe: ausweichen und zurück in die Spur finden. Dank ABS und guten Reaktionszeiten gelingt das erstaunlich oft. Wenn nicht, dann knallt es. In Selm nur das Wasser gegen die Frontscheibe, aber man mag sich nicht ausmalen, was im normalen Straßenverkehr bei einem Zusammenstoß mit anderen Fahrzeugen, Radfahrern oder Fußgängern passiert.

Der Schwierigkeitsgrad steigert sich kontinuierlich. Höhepunkt ist die Vollbremsung in einer Linkskurve bei Gefälle und nassem Untergrund. Mehr als 40 Stundenkilometer sind nicht erlaubt, sonst ließe sich der Bus nicht mehr kontrollieren. Eine Grenzerfahrung, die einen ihrer Kollegen aus dem Sitz drückt und ein paar Meter über den Boden rutschen lässt. Ihm passiert glücklicherweise nichts, aber anschaulicher hätte das Training nicht enden können.

Zum Schluss sind die Teilnehmer*innen genauso erschöpft wie Sankalla und Schmidt. Aber – und das ist entscheidend – die Sinne sind geschärft. Genau wie das Vertrauen in die Technik, das Fahrzeug und die eigenen Fähigkeiten. Denn Busfahren ist ein Knochenjob, herausfordernd für Körper und Geist. Die Kunst ist, bei aller Routine die Konzentration in jeder Sekunde hochzuhalten. Für die Momente, die oft wie aus dem Nichts Voraussicht, Reaktionsschnelligkeit und fahrerisches Können verlangen. Einen Moment, wie Ralf Bonsiepe ihn erlebt hat – und nie wieder erleben möchte.

Tipps für eine sichere Fahrt

Im Bus sollten Fahrgäste wichtige Grundregeln beherzigen:

  • Wenn möglich, nehmen Sie einen Sitzplatz ein und halten Sie sich zusätzlich fest.
  • Wenn Sie stehen, halten Sie sich mit beiden Händen an den Stangen oder den Griffen fest und nehmen einen festen Stand ein.
  • Beobachten Sie die Verkehrssituation aufmerksam, um im besten Fall auf Brems- oder Ausweichmanöver vorbereitet zu sein.
  • Verstauen Sie Gegenstände wie Taschen und Einkaufstüten sicher unter dem Sitz, damit diese bei einem Unfall oder einer starken Bremsung nicht durch den Bus fliegen und zur Gefahr werden.
  • Stellen Sie Rollatoren, Rollstühle oder Kinderwagen im Sondernutzungsbereich an der zweiten Tür ab und sichern Sie diese durch die Feststellbremse und Festhalten.

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